David Díaz Prieto


Einer aus Kolumbien

David und das Meer

Erinnerungen

Foto: © JGU / Stefan F. Sämmer

Einer aus Kolumbien
Erinnerungen an David DÍAZ PRIETO (1949–2018)1

Andreas F. Kelletat

„Einer aus Kolumbien“ hab ich mir über diesen Versuch geschrieben, ein Lebensbild meines Kollegen und Freundes David Díaz zu zeichnen, der am 20. August verstorben ist. Zu danken hab ich denen, die in den letzten Tagen ihre Erinnerungen mit mir geteilt haben, Erinnerungen, ohne die ich dieses Bild nicht hätte zeichnen können. Allen voran gilt mein Dank Gabi Zorell, Davids Lebensgefährtin seit ihrer Begegnung vor 39 Jahren in Paris.

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Eigentlich darf es das in unseren Zeiten des verschärften Datenschutzes ja gar nicht mehr geben – so eine DIN A 5-Karteikarte, auf der man den Weg eines Studenten vom Tag seiner Einschreibung bis zur Exmatrikulation fast lückenlos verfolgen kann – lückenlos zumindest mit Blick auf das, was der Student im Lauf der Jahre an Übungen und Seminaren und Vor­lesungen belegt und an Leistungen von seinen Dozenten attestiert bekommen hat. Trotz­dem: eine solche, inzwischen ziemlich vergilbte Karteikarte hat sich für David Díaz erhalten.

„Gasthörer“ steht oben rechts auf der von Rosita Frisch-Klee angelegten Karte. Aber das Wort „Gasthörer“ wurde später durchgestrichen. Darunter der Name: „Diaz Prieto, David“. Ganz rechts das Passbild, ein Farbbild: David schaut in die Kamera. Er hat dichtes schwarzes Haar, einen schwarzen Vollbart, kräftige Lippen; er trägt eine weiße Windjacke, einen schwarzen Pulli mit V-Ausschnitt, darunter ein kariertes Hemd mit weit geöffnetem Kragen. Leger könnte man die Kleidung nennen.

Kein sehr junger Mann schaut da 1981 in die Kamera, eher auf Ende 20, Anfang 30 muss man ihn schätzen. Keiner also, der mit 18 oder 20 sein Studium am GI beginnt, am Germa­nisti­schen Institut des FAS, des Germersheimer Fachbereichs Angewandte Sprachwissen­schaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Unter den Familiennamen des Vaters (Díaz) sowie der Mutter (Prieto) und unter dem Vor­namen (David) folgen die Stammdaten: Geboren am 22. Juni 1949 in Bogotá / Kolumbien. Muttersprache: Spanisch. Erste Fremdsprache: Deutsch, Zweite Fremdsprache: Französisch. Studienbeginn: Wintersemester 1981/82, Exmatrikulation: 11. April 1994. – 1981 bis 1994? Das wären ja mehr als 12 Jahre Studium, 25 Semester. Da kann irgendwas nicht stimmen. Zumal ganz unten auf der Karte steht, dass David Díaz bereits im Juli 1986 die Prüfung zum Diplomübersetzer mit der Gesamtnote „Sehr gut (1,5)“ bestanden hatte.

Warum hat er sich nach bestandener Diplomprüfung durch weitere acht Jahre immer wieder als Student in Germersheim zurückgemeldet? Wegen des billigen Mensa-Essens? Wegen des Semestertickets für die Fahrten nach Kaiserslautern? – Nein, David musste sich als Doktorand Semester für Semester an der Universität immatrikulieren, damit er aus Deutschland nicht rausgeschmissen wurde. Er war Kolumbianer und hatte die Aufenthaltsberechtigung nur zum Zwecke des Studiums erhalten. Wie ernst es ihm mit dem Promotionsvorhaben war, worum es in der Dissertation gehen sollte, das weiß ich nicht. Vermutlich hatte er ein romanistisches Thema gewählt, dafür spricht, dass er ab 1986 als dritte Fremdsprache das Portugiesische belegte.

Drei prall gefüllte Aktenordner haben sich bei seiner Familie erhalten mit offiziellen Schreiben, in denen es immer wieder um die Frage geht, ob und warum und wie lange denn noch der Herr Díaz in Deutschland zu bleiben gedenke. Noch als er hier bereits zwei Kinder hatte, Alexandra und Julian, gab es diese Anschreiben. Sogar noch, als er 1993 die Mutter seiner Kinder, mit der er schon seit Ende der 70er Jahre zusammenlebte, geheiratet hatte – in Dänemark übrigens, weil all die offiziellen Papiere, die für eine binationale Eheschließung von unseren Behörden verlangt werden, aus seinem Heimatland Kolumbien schlichtweg nicht zu beschaffen waren. Als verspäteten Hochzeitsgruß der Kreisverwaltung Bad Dürkheim hatte David im Februar 1997 unter der Betreffzeile „Eheschließung mit einem [sic!] deutschen Staatsangehörigen“ zur Kenntnis zu nehmen, dass er zwar für zunächst drei Jahre erneut eine Aufenthaltsgenehmigung erhalte, dass die aber widerrufen werden müsse, falls die Ehe nicht halten sollte oder nur zum Schein geschlossen worden sei und dass in diesem Falle seine Aus­weisung bzw. Abschiebung zu erfolgen habe.

Zuvor, im Mai 1996, da war er bereits seit Jahren festangestellter Mitarbeiter unserer Uni­ver­sität, hatte ihm die Personalabteilung unserer Universität den vielleicht sogar freundlich gedachten Hinweis geschickt, dass am 30. Juni 1996 seine Aufenthaltserlaubnis ablaufe und dass er sich bitte rechtzeitig usw. usf. – Erst 2011, wenige Tage bevor er sich wegen der Leukämie-Erkrankung auf die Station 17-4 des Mannheimer Klinikums begeben musste, stellte er den Antrag auf Ein­bür­gerung. Durch 20 Jahre lebte David schon hier bei uns und immer noch konnte er nicht wirklich sicher sein, dass das so würde bleiben können. Deutsch­land wollte halt kein Ein­wan­derungsland sein, egal was dieser Einwanderer bereits für uns geleistet hatte… Es dürften auch solche persönlichen Erfahrungen sein, aus denen sich Davids besonders hartnäckiges Eintreten für die Belange unserer ausländischen Studie­ren­den erklären lässt.

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Zurück zu der vergilbten Karteikarte und dem „Sehr gut“ in der Diplomprüfung. Diese Note bedeutete 1986 noch etwas mehr als heutzutage, denn die Prüfung zum Diplomübersetzer hatte es wahrlich in sich. Zunächst war die Diplomarbeit zu schreiben. Ein Exemplar dieser Arbeit hat sich an unserem Fachbereich leider nicht erhalten, aber David hat eins aufgehoben (wie er fast alles aufgehoben hat, wenn auch angeblich nicht sehr gut geordnet). Seine Frau hat mir Titelblatt und Inhaltsverzeichnis in Kopie zukommen lassen. Bei Prof. Gerhart Mayer wurde die Arbeit geschrieben, bei meinem in diesem Jahr im Alter von 91 Jahren verstor­benen Vorgänger. Davids Diplomarbeit trägt den Titel Das Lehrtheater bei Lessing und Brecht: Theorie und Praxis. Analysiert wurden Nathan der Weise und der Kaukasische Kreidekreis. Kein Thema ist das, das mit dem Übersetzen irgendwie zu tun hätte, aber doch Stoff bot zum eigenständigen Nachdenken über zwei der interessantesten Texte der deutschen Dramenliteratur.

Nachdem die Arbeit angenommen und bewertet war, mussten innerhalb von nur 14 Tagen elf Teilprüfungen abgelegt werden, sieben Klausuren und vier mündliche Prüfungen à 30 Mi­nuten. Auch hierfür finden sich sämtliche Einzelnoten auf besagter Karteikarte, heraus­ragend gut waren Davids Leistungen beim Übersetzen ins Spanische.

Dass David 1986 die Diplomprüfung mit Bravour bestanden hat, überrascht ein wenig, wenn man sich die Rückseite der Karteikarte anschaut. Dort findet sich die Liste aller von David besuchten Lehrveranstaltungen samt Namen der Dozenten: Margarete Atanasov, Hans Brestyensky, Rainer Kohlmayer, Klaus von Schilling, Johannes Westenfelder. Auch die von den Dozenten festgesetzten Noten stehen dort. Gar nicht so sehr gut schaute das zunächst aus. Nicht einmal richtig anfangen konnte David mit dem Studieren, sondern er hatte zunächst als Gasthörer einen zweisemestrigen Vorkurs zu absolvieren, um die erforderlichen Deutsch-Kenntnisse zu erwerben. „Ausreichend (3,7)“ liest man da als Abschlussnote – keine Glanz­leistung...

Was aber auch kein Wunder war! Denn der 32jährige Kolumbianer musste ja zunächst einmal die neue germanische Fremdsprache von Grund auf gründlich erlernen, so gründlich, dass er schließlich aus dem Deutschen und sogar ins Deutsche möglichst fehlerarm übersetzen konnte. Das war eine gigantische Herausforderung, denn natürlich lernt man mit über 30 Jahren eine Fremdsprache nicht mehr so leicht, wie man es als 10- oder 15-jähriger tun kann. Seine Frau hat mir erzählt, dass er ohne irgendwelche Vorkenntnisse mit dem Deutschlernen in Ger­mers­heim beginnen musste. Untereinander hatten David und Gabi immer nur Französisch gespro­chen. Denn in Frankreich hatten sich die beiden kennen gelernt, in Paris. In Germersheim hat David dann darauf bestanden, dass sie nur noch Deutsch miteinander sprachen, weil er es sonst nicht geschafft hätte, das Hineinkommen in dieses neue Idiom.

Besonders unterstützt haben David in dieser deutschen Anfangszeit außer seiner Frau Leute wie unser aus Mersin stammender türkischer Student Nihat Kont. Er half David beim Deutschlernen und David half ihm, dem elf Jahre jüngeren, das Spanische zu erlernen, Nihats Ne­benfachsprache. Die im Studium zwischen den beiden Nicht-Europäern geschlossene Freundschaft hielt durch die Jahrzehnte, schloss später die Ehepartner und die Kinder mit ein und Nihat besuchte sogar Davids Mutter und Geschwister in Kolumbien. Ein anderer sehr wich­tiger Unterstützer, auch in Sachen Ausländerbehörde, war Hans Brestyensky, als GI-Do­zent verantwortlich u.a. für den Deutsch-Intensivkurs und die Spanisch-Überset­zungs­übungen.

Im Sommer 1984, nach drei Jahren Germersheim, scheint das Ärgste überstanden gewesen zu sein, sogar ein Grammatikkurs bei der gestrengen Frau Atanasov wird jetzt mit „2 plus“ bewertet und im Vordiplom gibt es als Gesamtnote bereits ein „gut“. Wobei jedoch immer noch der Abstand zwischen dem Her- und dem Hinübersetzen ins Auge fällt: Eine 1,0 fürs Übersetzen ins Spanische steht neben einer 3,3 für die entgegengesetzte Richtung. Aber in der Abschlussprüfung, nur vier Semester später, wurden die Klausuren in beide Richtungen mit der besten Note bewertet: 1,0.

So viel, so wenig lässt sich über den Studenten David Díaz Prieto erkennen aus dieser vor 37 Jahren am Germanistischen Institut angelegten Karteikarte.

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David hat nach Abschluss seines Studiums Germersheim nicht den Rücken gekehrt. Er wechselte die Seiten, wurde vom Studenten zum Dozenten. Das begann im April 1987 mit einem Lehrauftrag am GI, dem Germanistischen Institut. Für vier Stunden Übersetzungs­übungen ins Spanische gab’s 30 DM pro Stunde inclusive Vor- und Nachbereitung sowie Korrekturen von Hausarbeiten und Klausuren. Fünf Jahre lang hat er (neben seiner freibe­ruf­lichen Arbeit als Fachtextübersetzer) diese ziemlich miserabel entlohnte wissenschaftliche Arbeit für das Fach Deutsch geleistet, dann bekam er, im April 1992, eine halbe Mitarbei­terstelle am IASPK, dem von den Professoren Pörtl und Perl geleiteten Institut für Spanische und Portugiesische Sprache und Literatur. Statt spanischen Muttersprachlern mit Deutsch als Fremdsprache hatte er nun deutschen Muttersprachlern das Übersetzen spanischer Texte beizubringen.

Das ging zehn Jahre lang gut und zwischendurch auch einmal weniger gut, so dass David im Frühjahr 2002 eher mit Erleichterung seiner „Umsetzung“ aus dem Fach Spanisch zurück ins Fach Deutsch zugestimmt haben dürfte. Dort, an dem heutigen Arbeitsbereich Interkulturelle Germanistik, war er – mit dem hier Berichtenden als Chef – seither tätig: weitere zwölf Jahre als Lehrkraft für besondere Aufgaben, wobei sich die Lehrinhalte im Laufe der Zeit gehörig ge­wandelt haben: Zu den Übersetzungen technischer Fachtexte kam der Umgang mit Software-Programmen hinzu, mit integrierten Übersetzungssystemen und auch die Arbeit an litera­rischen Texten oder an Multimediaübersetzungen wie der Untertitelung von Filmen. Z. B. lei­tete er gemeinsam mit Professor Cornelia Sieber ein Projekt zur Untertitelung eines Doku­mentarfilms über den Dichter Manfred Peter Hein, mit dem er sich bei dessen Besuchen in Germersheim befreundet hatte. David mochte den Umgang mit Künstlern, er schätzte sie – wie ja auch in seiner Kindheit in seiner Familie in Kolumbien viel Wert gelegt wurde auf Künstlerisches, auf das Malen, das Lesen und Schreiben. Im November 2008 gab es in Neu­stadt eine Ausstellung mit Zeichnungen seines Bruders Jesús Díaz.

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Nach Beginn der Rentnerzeit Ende September 2014 hat sich David als sogenannter „Senior-Mitarbeiter“ weiterhin um Studierende des Faches Deutsch gekümmert. Ende Mai 2018, vor nicht drei Monaten, wurde verabredet, dass er auch im kommenden Wintersemester seine Mit­arbeit im Germersheimer Fachbereich fortsetzen werde. Natalia Stepantchenko hatte die Un­terrichtsplanung mit ihm abgesprochen.

Wer wird diese Aufgaben im Fach Deutsch jetzt übernehmen? Eine seiner Schülerinnen, ver­mute ich. Denn das ist es ja auch, was von David Díaz in Germersheim bleiben wird – nicht so sehr diese Einträge auf einer vergilbten Karteikarte und nicht der in Personalakten gesam­melte Papierwust mit Anträgen auf Einstellung und Umsetzung und Stellenanhebung oder die Genehmigungen von Lehrdeputatsreduktionen und Dienstreisen. Was bleiben und Bestand haben wird, das ist das, was seine Studierenden von ihm vermittelt bekommen haben: an Kenntnissen und Fähigkeiten, an Stoff zum Selberdenken und Erwachsenwerden.

Mehrere seiner ehemaligen Studentinnen konnte ich in den letzten Tagen fragen, wie das eigentlich war, der Unterricht bei David Díaz. Eine von ihnen, Raquel Pacheco Aguilar – sie ist inzwischen Doktorandin bei Dilek Dizdar – schrieb mir:

Als Lehrer hatte David eine gelassene Unterrichtsart. Er kam in den Hörsaal und war irgendwie schon im Gespräch mit mindestens einem von uns. Der Unterricht war oft eine Fortsetzung dieses Gesprächs. Große Formalitäten waren nicht weiter notwendig. Nach einer so langen Erfahrung wusste David genau, wie er eine Gruppe von Stu­die­renden motivieren konnte, ohne dafür auf institutionelle Strenge zurückgreifen zu müssen. Beim Sprechen benutze David eine leise und singende Stimme. Er lächelte oft. Ihn schienen unsere Einfälle glücklich zu machen. Wir wussten, dass er unsere Gedan­ken mit Freude hören mochte, dass wir auf ihn zählen konnten.

Sein Lieblingsunterrichtsfach war ohne Zweifel das Fachübersetzen Deutsch-Spanisch. Dort erzählte er uns, wie er früher selbst zahlreiche technische Texte bei gro­ßen Firmen aus der Region übersetzt hat. Seine Erzählungen haben wir immer genossen, denn sie gaben uns Einblicke in eine Welt, die wir ja kaum kannten. Für den Unterricht wählte er oft richtig schwierige und ziemlich lange Texte aus: Betriebs- und Montageanleitungen über netzgekoppelte Solarstromanlagen oder Spiralge­häuse­pumpen. Er versuchte stets, uns ein Gefühl für diese technischen Anlagen zu vermitteln. Da wir aber eher wenig verstanden, brachte er einmal sogar eine dieser Pumpen mit in den Unterricht – ein schweres Gerät aus Gusseisen, dessen Funktion er uns mit Be­gei­sterung genau erklärte. Man kann ohne Zögern behaupten, dass David sich in dieser tech­nischen Welt zu Hause fühlte.

Im Unterricht legte er großen Wert auf Gruppenarbeit. Ihm lag die Selbstverant­wortung der Studierenden beim Lernen und Übersetzen am Herzen. Gleichzeitig ver­langte er von den angefertigten Übersetzungen eine hohe Qualität. Er versuchte uns immer ‚realistische‘ Übersetzungsaufträge zu erteilen, bei denen drei oder vier Studie­rende an einem Projekt zusammenarbeiteten. Diese Projekte waren nicht einfach zu koordinieren; unter Davids Leitung lernten wir aber schnell, umfangreiche Über­set­zungen anzufertigen, terminologisch zu überprüfen, zu lektorieren und zu formatieren. Die Übersetzungen aus einem dieser Projekte wurde sogar veröffentlicht: Umaimute. Echos aus dem Dschungel.

Als ich gegen Ende meines Studiums ein Lehrpraktikum absolvierte, hatte ich die Gelegenheit David noch etwas besser kennen zu lernen. Ich erinnere mich an unsere Diskussionen über die besten Lehrmethoden, über die didaktische Herausforderung, wie man Studierende dazu bringen kann, gemeinsam und verantwortungsvoll zu arbeiten.

Dieser Gedankenaustausch mit David brachte mich letztendlich dazu, mich jetzt im Rahmen meiner Doktorarbeit mit Fragen der Translationslehre zu beschäftigen. David als Lehrer erlebt zu haben – das hat mein Interesse an der wissenschaftlichen Reflektion über das Lehren der Translation geweckt.

So das Zeugnis von Raquel Pacheco Aguilar. Eine andere ehemalige Studentin, Johanna Fer­nández Castro, schrieb mir:

David wirkte auf mich, auch wenn er schon über 30 Jahre in Europa lebte, sehr kolum­bianisch – im positivsten Sinne. Seine Spontaneität und sein Humor gaben mir, die ich ja selbst aus Kolumbien stamme, das Gefühl (insbesondere in den ersten Wochen in Germersheim, als ich schon Heimweh hatte) jemanden getroffen zu haben mit dem ich dieselbe „Sprache“ teilte. Zum Beispiel im Unterricht, wenn nur wir beide den Witz an einer bestimmten Situation erkannten, der den anderen verborgen blieb. Später hatte ich das Glück, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er hat mich ermuntert meine Ideen weiter zu entwickeln. Ich bemerkte dabei, dass es ihm sehr gut tat, gemeinsam dieses Projekt über die Erzählungen der Indigenen zu entwickeln und schließlich die Publikation als ein Produkt seiner Arbeit zu haben.

Er war sehr begeistert und ich bewunderte seine Energie, wissend dass er bereits krank war, ebenso wie seinen unkomplizierten Umgang mit uns Studierenden. […]

Mehr denn als Dozenten, werde ich David als einen neugierigen, aufmerksamen und warmherzigen Menschen in Erinnerung behalten.

 

Johanna Fernández habe ich auch danach gefragt, wie denn der Dozent David Díaz mit jenen nicht unerheblichen Unterschieden umgegangen ist, die es zwischen dem Spanischen gibt, wie es in Europa gesprochen und geschrieben wird, und jenen Varianten, die unsere Studenten aus Lateinamerika mitgebracht haben. Sie schrieb mir:

Ja, es gibt diese Unterschiede insbesondere im Bereich des Wortschatzes. Im Unterricht war das immer wieder ein Thema, denn Davids Gruppen bestanden aus Studierenden aus allen möglichen spanischsprachigen Ländern. David war meistens neugierig darauf, wie das jeweils „Gleiche“ jeweils anders gesagt wurde und er war sehr interessiert an den Erklärungen der Studierenden. Wenn es darum ging, eine endgültige Version zu finden, wurde dies im Einvernehmen aller Beteiligten beschlossen, auch wenn er selbst mit der gefundenen Lösung nicht immer völlig zufrieden war. Aber er hat uns stets selber entscheiden lassen, welche Option am besten passte, und er respektierte die regionalen Unterschiede.

Ein drittes Zeugnis darf ich noch vorlesen, es stammt von Agnieszka Surdyka, die an einem von Torsten Israel geleiteten Projekt teilgenommen hat. Da ging es um die Übersetzung einer griechischen Seefahrer-Erzählung von Nikos Kavvadias, zunächst ins Deutsche und von dort aus in vier weitere Sprachen. Agnieszka hat die polnische, David die spanische Version der Erzählung mit dem Titel Li erstellt. Seine Ko-Übersetzerin erinnert sich:

Die Nachricht über den Tod von David Díaz Prieto habe ich mit Trauer vernommen. Vor etwa drei Jahren waren wir einander im Rahmen der Germersheimer Überset­zungs­werkstatt bei der Übersetzung der Kavvadias-Novelle LI begegnet. Während dieser Zeit habe ich David als zutiefst herzliche, humorvolle und hilfsbereite Seele kennenlernen dürfen – einer der seltenen Menschen, bei denen nur wenige Augenblicke reichen, um einen tiefen Eindruck zu hinterlassen und deren Wärme und Charisma noch über die Begegnung mit ihnen hinaus nachwirken.

Wirst du dich an mich erinnern, wenn ich abreise? Diese Frage wird in der Erzählung LI gestellt.

Ja. Das werden mit Gewissheit alle, die das Glück hatten, Augenblicke mit David Díaz Prieto zu teilen. Auch ich hier in der taiwanischen Ferne, wenn ich das nächste Mal auf die Weiten des Südchinesischen Meeres schaue.

Die Kavvadias-Übersetzungen von Agnieszka und David hat Torsten Israel 2016 in einem wunderschön gemachten Buch herausgegeben. Auch vorgetragen wurden die Texte im Thea­terkeller auf dem Sommerfest unseres Fachbereichs.

Apropos Sommerfest: David kam regelmäßig dort hin, wie er auch an all den anderen Veran­staltungen teilnahm: den Examens- und Weihnachtsfeiern, dem Neujahrempfang des Dekans, den Lehrkörperversammlungen, Lesungen von Schriftstellern, den Winterfesten in Mannheim, zu denen er stets etwas besonders Schmackhaftes mitbrachte. Er liebte das ruhige Gespräch mit Kollegen und Studenten. Leuten, die ihn nicht mochten, ging er aus dem Weg. Was aber nicht heißt, dass er stets jedem Konflikt auswich. Wenn es einmal ernst wurde, wenn er zu etwas Unanständigem genötigt werden sollte, wusste er, wie man sich zu wehren hat.

Summa: Sich einbringen in Projekte, Hilfestellungen zu geben, neugierig zu bleiben und seine Studenten zur Neugier zu ermuntern, das war charakteristisch für den Dozenten David Díaz. Im letzten Jahr, dem Luther-Jahr, arbeitete er mit einer sprachlich bunt gemischten Studenten­gruppe an der Übersetzung des historischen Romans Der Protestant. Bei einer Exkursion nach Neustadt trafen sie dann auch den Roman-Autor, Michael Landgraf, der ihnen alle möglichen Fragen zu Luther und der Reformationszeit beantwortete.

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Nicht nur Studenten werden etwas von dem weiterleben, was sie David verdanken, auch viele seiner Germersheimer Kolleginnen und Kollegen haben von ihm etwas gelernt, was sie reicher gemacht hat. Dabei denke ich nicht nur an die Kolleginnen und Kollegen im Fach Spanisch und im Fach Deutsch, sondern an Leute aus dem gesamten Fachbereich, auch und gerade aus unserer Verwaltung.

Dazu muss man wissen, dass sich David Ende der 90er Jahre aus eigenem Antrieb – also ohne Aufforderung durch irgendeinen Vorgesetzten – eine neue große Aufgabe gestellt hatte: Er wollte unseren Fachbereich ins Internet-Zeitalter bringen und ließ sich deshalb vom Dekan – das war meine Wenigkeit damals – zum Internet-Koordinator ernennen. David erarbeitete ein umfangreiches Konzept, was dafür alles von ihm in Angriff genommen werden sollte: Bera­tung in allen Instituten und der Verwaltung, Design und Programmierung der Webseiten, Nut­zung des Internets als Medium für die Lehre und Forschung, als Plattform, um die Institute vorzustellen, das Angebot in Lehre und Fortbildung, für Öffentlichkeitsarbeit, Teleteaching, Fernstudium, Übertragung der vielsprachigen Dolmetsch-Konferenzen usw. usf. . – Jede Menge Zeit und Energie investierte David in seine eigene Weiterbildung in Sachen Informatik. Immer wieder fuhr er auf den Hauptcampus unserer Universität nach Mainz, um bei den EDV-Spezialisten dort die Germersheimer Anliegen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Und er suchte und gewann Mitstreiter für seine weit in die Zukunft gerichteten Pläne. Die wichtigste wurde im Lauf der Jahre Doris Kinne. Sie schrieb mir Anfang der Woche:

Es war eine wahre Pionierleistung, die David in den ersten Jahren für die Fachbe­reichs­webseiten erbracht hat. Ein Corporate Design der Uni Mainz gab es noch nicht und so war es sehr viel „Handarbeit“, die David in die Webseitenerstellung und -pflege ge­steckt hat. Wir waren etwas später dran als die meisten Mainzer Bereiche, aber David hat nach und nach die Webseiten sämtlicher Fächer und Abteilungen des Fachbereichs in ein neues Design gebracht.

David und ich hatten seit einigen Jahren einen regen kollegialen Austausch: Er nahm bei mir Griechisch-Unterricht (ich eine Weile auch bei ihm Spanisch) und wir tauschten uns über Lehrinhalte und -methoden und eben über allerlei Fragen zur Web­seiten­erstellung aus. Ich lernte sehr viel von ihm.

Ich erinnere mich noch, als wär es heute, als mich David im Frühjahr 2011 aus der Klinik in Mannheim anrief und sagte, dass er erst einmal dort werde bleiben müssen. Ob ich bereit sei, sofort seine Aufgaben als Webmaster des Fachbereichs zu übernehmen. Ich musste nicht überlegen, sondern sagte sofort zu. Das System kannte ich bereits vom Einsatz beim Arbeitsbereich Griechisch und über die fachbereichsweiten Gremien­aktivitäten hatte ich einen hinreichenden Überblick über die strukturellen Gegeben­heiten. Aber auch allein sein Vertrauen in mich wäre schon ausreichend gewesen zuzu­sagen.

Nach seiner Genesung arbeiteten wir im Prinzip gemeinsam im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, der zusehends institutionalisiert wurde. Ich unterstützte David bei der Betreuung des Inter- und Intranet-Angebots, er mich wiederum bei der Pflege der Praktikums- und Stellenbörse. David legte bei der Auswahl der Angebote immer sehr strenge Maßstäbe an, damit „unsere Studenten nicht ausgenutzt werden“.

Als er 2014 in den Ruhestand ging und ich für die Öffentlichkeitsarbeit (inklusive Webseitenpflege) zuständig wurde, war es für ihn überhaupt kein Problem, die Rollen zu tauschen. Nun war er es, der die Kolleg/innen und mich bei der Arbeit unterstützte.

Im Rahmen seiner Senior-Mitarbeiterstelle hat er uns sehr engagiert und zuver­lässig weiterhin geholfen, sich mit eigenen Ideen eingebracht und an vielen Stellen ver­mittelt. Neuem gegenüber war er zuweilen aufgeschlossener als wir Jüngeren. In den letzten Wochen hatte er uns dabei unterstützt, den „Umzug“ der Fachbereichswebseiten in ein neues Redaktionssystem vorzubereiten. Im kommenden Wintersemester 2018/19 wollte er uns noch beim Abschluss dieser Arbeiten unterstützen, bevor er sich wieder ver­stärkt seinen anderen Interessen zuwenden wollte. Er war noch so voller Tatendrang.

Nochmals sei es betont: David hat diese Riesenarbeit nicht auf Anordnung von oben über­nommen, er tat es nicht aus einer Art preußischen Pflichtbewusstseins, er machte das einfach so, weil er sehr frühzeitig gesehen hatte, dass es gemacht werden musste. Engagement für die Institution und die Menschen in dieser Institution, so könnte man es vielleicht charakterisieren.

Ein Kuriosum am Rande: Im Frühjahr 2017 sollte David Díaz Prieto im Namen des Landes Rheinland-Pfalz aus Anlass seines 25jährigen Dienstjubiläums „für die der Allgemeinheit geleisteten treuen Dienste Dank und Anerkennung ausgesprochen“ werden. Sogar ein Tag Sonderurlaub war ihm in Aussicht gestellt worden und der Präsident unserer Universität hatte die auf feinem Bütten fabrizierte Dankurkunde bereits unterschrieben und zwecks Überrei­chung an unseren Dekan, an Michael Schreiber, nach Germersheim gesandt. Aber plötzlich hieß es: Kommando zurück! Die Urkunde durfte nicht überreicht werden, denn die Personal­abteilung in Mainz hatte auf den letzten Drücker bemerkt, dass Davids „tarifliche Be­schäftigung“ ja „bereits mit Ablauf des 30.09.2014 wegen Rentenbezug geendet“ habe, so dass „eine 25-jährige Dienstzeit bei [ihm] leider nicht mehr gegeben“ sei … So geht das manchmal zu im öffentlichen Dienst… Dabei hatte David Díaz doch seit 1987 schon seine „treuen Dienste“ für unsere Universität geleistet, nicht erst seit 25, sondern bereits seit 30 Jahren. Aber seine Jahre als Lehrbeauftragter und als Senior-Mitarbeiter, die zählten halt nicht als „treue Dienste“.

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Doris Kinne erwähnt den Anruf aus dem Klinikum in Mannheim. Viele Wochen lag David dort auf der Isolierstation, in einem Einzelzimmer, damit er geschützt war vor Infektionen. Nur die Familie durfte ihn besuchen. Als eine lange Seereise hat er das genommen. Die Ärzte und die Krankenschwestern mochten ihn. Und er war ihnen dankbar. Als er entlassen worden war, kaufte er ein Bild von Mannheim, ließ es einrahmen und schenkte es der Station 17-4, der Station für Leukämietherapie. Dort hängt das Bild jetzt und erinnert an ihn.

Sieben Jahre Weiterleben waren David gegeben worden. Immerhin: Sieben Jahre. Auch wenn die Umstellung in der Lebensführung, dem Essen und Trinken, dem Vermeiden von allem, was irgendwie ansteckend wirken könnte, der Familie sehr viel abverlangt haben wird. Aber Gabi und Alexandra und Julian hatten ihn noch einmal für sieben Jahre, den Vater und den Ehemann. Gabi und David schmiedeten Pläne für das Alter, für den Umzug in ein Mehr-Generationen-Haus, für das Leben später, abwechselnd vielleicht auf der Insel Teneriffa und hier in der Pfalz …

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Besonders lieb sind mir die Erinnerungen an Reisen, die David mit uns Leuten aus dem Fach Deutsch unternommen hat. Im August 2007 waren wir eine Woche gemeinsam auf der Tagung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik in Finnland: Andrea Cnyrim, Catherine Chabasse, Hajo Bopst, Julia Neu, Susanne Hagemann, Ursula Hassel und David. Er wohnte bei mir in einem Holzhaus an einem See in der Nähe von Tampere. Er lernte, wie man eine finnische Sauna heizt; wir ruderten über den See. Alle gemeinsam wanderten wir in der Umgebung von Lempäälä und mussten uns durch Fällen einer Birke über einen kleinen Fluss hinüberhangeln. Das war spaßig.

Im November 2013 waren wir in kleinerer Runde in Stockholm: David, Julija Boguna und ich. Es ging um das in Schweden entwickelte digitale Übersetzerlexikon, das wir nachmachen wollten, für sämtliche Übersetzer, die seit den Tagen Luthers aus allen Sprachen der Welt Texte ins Deutsche gebracht haben. Ein Mammutprojekt ist das, nur in digitalem Format irgendwie sinnvoll zu bewältigen – wovon David uns überzeugte. Er beriet (auf Englisch natürlich) zwei Tage lang mit dem schwedischen Informatik-Experten, mit Mats Eriksson, wie wir ihr System für unsere Zwecke lokalisieren könnten.

Aus dieser Reise nach Stockholm ist das Germersheimer Übersetzerlexikon hervorgegangen. Viele Gespräche haben Julija Boguna, Aleksey Tashinskiy und ich mit David über viele komplexe Detailfragen geführt. Davon profitieren wir nach wie vor. Und von allen Seiten gibt es immer wieder Lob für den von David so ansprechend gestalteten Internet-Auftritt des UeLEX. Vor allem aber hat uns David eine IT-Expertin vermittelt, eine junge Informatikerin, die von der technischen Seite noch viel mehr versteht als er: Seine Tochter Alexandra Díaz Zorell. Ohne David und ohne Alexandra gäbe es dieses digitale Lexikon-Projekt nicht. Danke auch dafür dem Vater und seiner Tochter!

Einen Abend verbrachten wir in Stockholm in ausgelassener Runde zu Hause bei Professor Lars Kleberg, dem Iniatiator und Haupt der schwedischen Übersetzerforschung. In den Bera­tungspausen erkun­deten wir Stockholm, die Altstadt, das Königsschloss, das Moderna museet mit der bunt bemalten, wohl 30 Meter langen Riesenfrauenplastik von Niki de Saint Phalle. Wir standen im Gedenkpark für die über 800 Menschen, die im Herbst 1994 beim Untergang der Estonia vor der finnischen Insel Utö in der Ostsee ertrunken waren. Gleich nebenan im Wasa-Museum aus der Insel Djurgården krabbelten wir durch das – vor einigen Jahren vom Grund der Ostsee wieder heraufgeholte – prächtige, kanonenbewehrte königliche Kriegs­schiff, die Wasa, die 1628 auf ihrer Jungernfahrt gesunken war.

Am Abend saßen wir zu Dritt bei Tee und Keksen in unserem kleinen Hotel und Julija fragte David nach seiner Zeit als Seemann und wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er aus seinem Heimatland Kolumbien weggegangen und schließlich in Germersheim gelandet war. Was Julija und ich aus diesem Stockholmer Abendgespräch erinnerten, hat mir Davids Frau jetzt noch einmal ausführlicher erzählt. Wie also sah er aus, Davids Weg von Bogotá hierher in die Pfalz?

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Fünf Geschwister hatte David, eine Schwester, Patricia, starb früh. Der Vater, Silverio Díaz Lozano, arbeitete beim Zoll, weshalb die Familie oft umziehen musste. Die Stelle verlor er bei einem der Regierungswechsel. Dann musste er sich durchschlagen mit Gelegenheitsjobs. Die Mutter, Edelmira Prieto, war Schneiderin. Das Geld war knapp, die Kinder mussten helfen, manchmal wurde gehungert. Nur vier Jahre konnte David zur Schule gehen, mehr nicht. Er machte in Bogotá eine Lehre als Schreiner, kam mit 16 als Soldat zur Marine. Ein 16-jähriger, ein Kind fast noch, und fünf Jahre blieb er dort, wurde zum Maschinisten, zum Maschi­nen­führer ausgebildet.

1971 wechselte David zur Handelsmarine, fuhr über die Ozeane und durchs Mittelmeer, sah Maos China, das ihn beeindruckte; er sah Chicago, das ihn ängstigte; sah Indien, wo er in einem Restaurant essen wollte, vor dessen Tür der Wirt die Bettler mit einem Stock verscheuchte; er war in Kanada, wo sie das Schiff aus meterhohem Schnee freischaufeln mussten; er war im Südafrika der Apartheid und es kränkte ihn, wie auch er dort als „coloured“ behandelt wurde; er war auf einem Tanker in Libyen, wo Öl geladen wurde, weit draußen im Meer, wo es nichts gab außer einer Ölleitung. Und er wollte eigentlich immer fort aus diesem Milieu. Denn romantisch war das nicht, nicht das Leben beim Militär und nicht das danach. Mit üblen Gesellen hatte er es oft auf den Schiffen zu tun, mit Gewalt auch. Er wollte weg, wollte lernen, wollte nach Europa.

Im rumänischen Constanza endete seine Laufbahn als Seemann. Dort verließ er am 6. Dezember 1973 das Schiff, die in Monrovia registrierte Itel Pegasus, auf der er im Juli im französischen Rouen angeheuert hatte. Er türmte, mochte sich nicht mehr an den auf zwölf Monate für einen „word wide tramp“ geschlossenen Kontrakt halten. Aber er informierte seinen Kapitän. Seine Heuer, 530 DM pro Monat, bekam er noch und nähte das Geld in seine Jacke ein. Von Rumänien aus schlug er sich durch nach Frankreich, lebte illegal in Paris, jobbte dies und das und jenes und besuchte die Alliance Française, erwarb die Berechtigung, Französisch als Fremdsprache zu unterrichten, bestand 1978 die – dank der 68er Bewegung ermöglichte – sehr anspruchsvolle Externenprüfung für Nicht-Abiturienten zur Aufnahme an die Sorbonne Nouvelle im 6. Arrondissement. Dort studierte er Literaturwissenschaft bis zum DEUG-Diplom und er lernte als Mitarbeiter an einer privaten Sprachenschule Gabi Zorell kennen, ging mit ihr 1980 als Sprachlehrer für Spanisch nach Irland, war Gasthörer am University College in Dublin. Und schließlich entschieden sich die beiden, nach Deutschland zu gehen, nach Germersheim. Wo er zwar sein Literatur-Studium nicht richtig fortsetzen konnte, wo er aber etwas lernte, wovon sich halbwegs leben und eine Familie zumindest miternähren würde lassen können: Das Übersetzen.

Von Dublin und Paris also in die Kleinststadt an der Mündung der Queich in den Rhein? Die Regel ist doch die umgekehrte Richtung… Nein, genau das Richtige sei das für David ge­we­sen, hat Gabi erzählt. Germersheim sei sein „Heimathafen“ geworden. Hier endlich habe er zur Ruhe kommen können, seine Energie nicht mehr nur für das nackte Überleben einsetzen müssen. Er habe sich sicher fühlen können. Anders und viel besser sei das gewesen als in der Anonymität und der ewigen Hektik in Paris. Auch hätten sie eine wunderbare Zeit gehabt, die Jahre des gemeinsamen Studierens, das Zusammenleben in der WG in der Bismarckstraße … Natürlich war das Geld immer knapp, aber einmal hat David sogar ein Stipendium bekommen, 1.200 DM – ein Fest sei das gewesen!

Warum also war David Díaz weggegangen? Weil er lernen wollte, studieren – und dafür hätte es keinerlei Chance gegeben in seinem Herkunftsland, in Kolumbien. Das Land ist ihm dann im Laufe der Jahrzehnte fremder geworden. Obwohl er ab und an hinfuhr, als das Geld für solche Reisen langte. Zuletzt machte er das im letzten Jahr, gemeinsam mit seiner Tochter Alexandra. Sie besuchten Davids Geschwister, sahen die Neffen und Nichten, die Cousins und Cousinen. Und David sah noch einmal seine Mutter, die Schneiderin Eldemira Prieto. Sie starb kurz vor ihm in diesem Sommer, 101 Jahre alt.

Was für ein Leben! Welches Beharren, hierher zu kommen, nach Europa, nach Frankreich und zu uns nach Deutschland. Um was zu tun? Um es bequemer zu haben? Um Reichtümer anzuhäufen? Um ellenbogenrempelnd Karriere zu machen? Nein: um lernen, um studieren zu dürfen.

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Was Davids besondere Rolle am Arbeitsbereich Interkulturelle Germanistik ausmachte, hat Julia Neu auf den Punkt gebracht:

Für mich war David, schon in meiner Zeit als Studentin in der spanischen Abteilung und dann auch später am AIG, vor allem jemand, dem ich einfach vertrauen konnte.

Seine Kolleginnen und Kollegen werden David nicht zuletzt von un­serem Arbeitsbereichs­treffen im Sommer 2017 in Erinnerung behalten. Diese Mitarbei­ter­treffen finden sonst meist in einer Jugendherberge hier in der Umgebung statt. Aber für 2017 hatte uns Catherine Chabasse in ihr Landhaus nach Südfrankreich eingeladen, nach La Féole, nicht weit von La Rochelle.

Ich durfte mit David im geräumigen Haus eines Nachbarn wohnen, des vietnamesischen Pia­nisten Tri N’Guyen. Es waren satte, späte Sommertage. Wir machten Spaziergänge in der Umgebung, David plauderte mit den jungen Leuten, mit Mahmoud Hassanein aus Ägypten oder mit Theresa Heyer, die diese Tage in schönen Fotografien festgehalten hat. Auf einem der Gruppenbilder sieht man David in der Mitte der ersten Reihe (meist hielt er sich eher im Hintergrund), neben sich Şebnem Bahadır und Mahmoud Hassanein, in der zweiten Reihe Julia Neu, Caroline Jacobs-Henkel, Catherine Chabasse, ihr Ehemann, Theresa Heyer und Annett Jubara, in der dritten Reihe Stephan Walter, Aleksey Tashinskiy, Dilek Dizdar und Andreas Kelletat.

In dieser großen Runde tagten wir im wunderschönen Garten im Schatten unter mächtigen Linden und diskutierten, wie das in Zukunft weiter gehen könnte mit unseren Bachelor- und Masterstudiengängen für die ausländischen Studierenden. Wie man es schaffen könnte, wieder mehr Studenten aus Frankreich, aus den arabischen Ländern und auch aus Südamerika an unseren Fachbereich zu holen.

Eine Nachmittagsrunde war reserviert für Berichte darüber, was der eine oder die andere sich in letzter Zeit im Bereich der Forschung vorgenommen hatten. Am Ende dieser Runde er­zählte David von seinen Recherchen über die mündlich tradierten Erzählungen von indigenen Völkern in Südamerika. Mit denen wollte er sich weiter beschäftigen. Dann las er uns eine dieser Geschichten vor, Wanadi oder so ähnlich muss die geheißen haben. Da ging es um den Mythos von einem Ei und der Entstehung der Welt … Einzelnes erinnere ich nicht mehr, aber ich höre noch seine Stimme, sehe ihn, wie er uns das vorliest, und sehe seinen Blick, als wir ihm sagten, dass wir mehr von diesen Geschichten, mehr von ihm hören möchten.

Zum letzten Mal getroffen haben seine Kollegen David am 9. Juli. Er war aus Lambrecht nach Germersheim gekommen, um bei der Verteidigung einer Doktorarbeit dabei zu sein, der Dissertation von Aleksey Tashinskiy, dem Redakteur unseres von David mit zustande ge­brachten Übersetzerlexikons. Beim anschließenden Umtrunk – David bestand auf Mineral­wasser statt Sekt – nahm er mich kurz zur Seite und sagte, dass die Krankheit wieder aus­gebrochen sei, die Werte schlimmer als vor sieben Jahren, und dass ihm erneut eine Chemo­therapie bevorstehe. Ich mochte das nicht glauben, er sah doch aus wie das blühende Leben… Ich versuchte, einen Scherz zu machen in der Art, dass sich der liebe Gott für den Endspurt seiner Geschöpfe eigentlich etwas Anständigeres hätte ausdenken sollen. Ob David darüber lachen konnte, weiß ich nicht mehr.

Wie es sich für einen Literaturmenschen gehört, muss ich mit einem Gedicht schließen. Und ich hab eine Weile im Bücherregal hin und her gesucht, um etwas zu finden, was zu David passen könnte, auch weil er sich ja eine Seebestattung gewünscht hat. Ich kam schließlich auf Joachim Ringelnatz, denn er ist der einzige deutsche Dichter, der viele Gedichte über Seeleute geschrieben hat, über Häfen und das Meer. Ha­fenkneipe heißt eine seiner Gedichtsammlungen. Ich überlegte, welches Gedicht aus diesem Buch David selbst ausgewählt hätte, wenn er es noch hätte tun können – als Abschiedstext für seine Freunde, seine Kollegen, für seine beiden Kinder und für seine Frau.

Einen Satz von Victor Hugo haben Davids Angehörige auf die Einladungskarte zur Gedenk­feier in Neustadt geschrieben: „Tu n'es plus là oú tu étais, mais tu es partout là où je suis.“

So fand sich am Ende der Text, den David gewählt haben könnte, auch wenn der gar nichts mit Seefahrt, Häfen, Matrosen und dem Meer zu tun hat, sondern nur mit jenen Wegen, die man im Leben gemeinsam gegangen ist. Für M. heißt dieses Ringelnatz-Gedicht und seine zehn Verse gehen so:

Der du meine Wege mit mir gehst,
Jede Laune meiner Wimper spürst,
Meine Schlechtigkeiten duldest und verstehst –
Weißt du wohl, wie heiß du oft mich rührst?

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern.
Meine Liebe wird mich überdauern
Und in fremden Kleidern dir begegnen
Und dich segnen.

Lebe, lache gut!
Mache deine Sache gut!

David Díaz Prieto hat seine Sache gut gemacht. Wir müssen keinen Heiligen aus ihm machen. Aber sein Bild kann seinen Leuten und auch uns Fernerstehenden weiterhin Mut machen, anständig zu leben und unsere Sachen gut zu machen.

1 Der Text wurde in stark gekürzter Fassung auf der Gedenkfeier für David Díaz Prieto am 31. August 2018 in Neustadt an der Weinstraße vorgetragen.


David y el mar / David und das Meer

Jesús Josue Díaz Prieto

 

La vida de David siempre estuvo regida por el ambiente marinero. Desde niño tuvo contacto con los barcos. Pronto conoció los buques de vapor con aspas en la popa, como ese hermoso navío, casualmente llamado David Arango, que transitaba el río Magdalena desde Barranquilla hasta La Dorada y Puerto Salgar, puertos donde vivió en compañía de mis padres. Allí inició su inclinación por la vida del mar y en 1965 ingresó en la armada de Colombia. Siendo miembro de esta institución navegó a bordo del buque almirante Padilla en el Caribe, el Atlántico y el Pacífico. En 1970 se retira y permanece una temporada corta en Bogotá. Pero nuevamente el mar lo llama, y se embarca en grandes petroleros. Uno de ellos es el Pegassus, donde tuvo la oportunidad de navegar los siete mares. A mediados de los 70 se desembarca en Europa en busca de nuevos rumbos.

El espíritu del mar continuó en la familia y yo ingresé en la armada en 1978. Quiso el destino que en el verano de 1982 visitara algunos puertos del norte de Alemania. Allí me encontré con David y tuvimos la oportunidad de navegar entre los puertos de Leer y Papenburg en un buque de la armada colombiana, donde tuvo la grata oportunidad de recordar su época de marino.

En los últimos años, tradujo un interesante libro sobre el marino Li, de Nikos Kavadias, donde tuvimos la oportunidad de participar revisando los textos en español.

Todos tenemos nuestra carta de navegación, donde encontraremos el último puerto. David, como todo marino, tenía también su carta de navegación. En ella trazó el rumbo de su vida, un rumbo que lo condujo al puerto donde descansará para siempre.

Su legado permanecerá presente en nuestra existencia y como un faro continuará guiando nuestras vidas en medio de la más fuerte tempestad. Gracias

Davids Leben war immer mit dem Meer verbunden. Schon als Kind kam er mit Schiffen in Berührung, vor allem mit Heckraddampfern wie jenem mit einem zufällig ähnlichen Namen, der David Arango, die von Barranquilla bis zum La Dorada und Puerto Salgar den Fluss Magdalena auf- und abwärts fuhr. An diesen Häfen lebte David zusammen mit unseren Eltern. Dort entzündete sich sein Interesse für das Leben auf See. 1965 tritt er in die kolumbianische Marine ein. Als Mittglied der Flotte fuhr er mit der Almirante Padilla in die Karibik, über den Atlantik und den pazifischen Ozean. 1970 verlies er die Armada und lies sich in Bogotá nieder – aber nur für eine kurze Weile. Das Meer rief nach ihm und etwas später ging er wieder an Bord. Diesmal waren es große Erdöltanker wie die Pegassus, mit der er die Weltmeere erkundete. In den Siebziger entschied er sich, einen neuen Kurs einzuschlagen, und ging in Europa an Land.

Die Faszination für das Meer bliebt aber in der Familie erhalten und 1978  trat ich in die Marine ein. Im Sommer 1982 wollte es das Schicksal, dass ich einige Häfen im Norden Deutschlands besuchte. Dort traf ich David. Wir befuhren zusammen auf einem Schiff der kolumbianischen Marine die Häfen von Leer und Papenburg - eine Fahrt, die in David viele Erinnerungen an seine Zeit in der Armada weckte.

In den letzten Jahren arbeitete David an der Übersetzung eines interessanten Buches von Nikos Kavadias über den Seemann Li. Wir hatten die Gelegenheit, an dieser Übersetzung mitzuwirken, indem wir die spanischen Texte lasen und korrigierten.

Wir alle haben unsere Seekarte, auf der wir unseren letzten Hafen finden werden. Wie jeder gute Seemann folgte David im Leben seiner Karte, die ihn bis zu seinem letzten Hafen führte, ein Hafen in dessen Wassern er nun ruhen wird.

Bei unserem Dasein bleibt sein Vermächtnis lebendig. Wie ein Leuchtturm zeigt es uns auch mitten im schwersten Gewitter den sicheren Weg. Danke.

Übersetzt aus dem Spanischen von Raquel Pacheco Aguilar  


Erinnerungen

Wenn ich an Herrn David Díaz denke, erscheint sein Lächeln vor meinen Augen. Er war immer freundlich und fröhlich. Ich habe ihn im Unterricht LI kennengelernt, als einen erfahrenden Seemann mit Sprachtalent. Es scheint mir, als ob wir alle gestern noch über Übersetzungen im Unterricht LI diskutiert hätten.

Grüß Kavvadias und Li! Sehen wir uns irgendwann wieder!

息止安所

Yan XU